Predigt beim Christustreff der Apis in Dornstetten am 21.03.2021 – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Liebe Mitchristen,
als Bibelwort habe ich – jetzt in der Passionszeit – ein schweres Wort gewählt, vielleicht das schwerste aus der Leidensgeschichte Jesu: Jesus schreit am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Das zentrale Fragewort „Warum?“, das sich immer wieder wiederholt – auch in der Bibel -, das aus Menschen förmlich herausbricht, wenn tiefes Leid uns einholt, möchte ich zum Anlass nehmen, etwas breiter auf die Frage nach dem „Warum des Leids und der Not“ einzugehen. Ich möchte gar nicht beanspruchen, diese schwerste aller Fragen umfassend zu beantworten; was ich aber möchte, ist, einige biblische Anstöße dazu geben, wo ich den Eindruck habe, dass sie in unserer Zeit eher untergehen.
Ich möchte aber mit einer Leiderfahrung beginnen, die mich seit jungen Jahren nicht mehr loslässt – In meiner Heimatgemeinde, der Brüdergemeinde in Korntal, passierte ein schlimmer Unfall:
Ein dortiger Brüdergemeinderat – was einem Kirchengemeinderat entspricht – machte z.B. sonntags die Schriftlesung im Gottesdienst und war auch sonst in der Gemeinde engagiert, werktags betrieb er ein kleines Fuhrunternehmen und war mit seinem Gespann: Unimog mit Anhänger ortsbekannt.
Eines Tages, ich war glaube ich schon weg zum Studium, kam die Schreckensnachricht: Der 12jährige Sohn des Organisten und Kirchenmusikers, dessen Vater sonntäglich im gleichen Gottesdienst saß, war, als er von Unimog und Anhänger überholt wurde, dazwischen geraten und tödlich verletzt worden. Man wusste zwar, dass der Brüdergemeinderat und Fuhrunternehmer zwar immer zügig unterwegs war, wie aber die Schuldfrage letztendlich vor Gericht ausging, weiß ich nicht. Die Frage, die mich viel mehr beschäftigte: Wie schwer muss das für die Beiden denn gewesen sein, sich jeden Sonntag im Gottesdienst gegenüber zu sitzen und jeden Sonntag neu an das tragische Geschehen erinnert zu werden, dass sich zwischen ihren Familien abgespielt hat: Warum lässt Gott solche Dinge zu? Zumal zwischen Gläubigen, denen es ernst ist mit ihrem Glauben und die als Glaubensgeschwister und Mitarbeiter nach dem Neuen Testament ja aufs Engste mit einander verbunden sind?
Sie mögen ähnliche Beispiele wissen, ich weiß auch welche, die auf dieselbe Frage hinauslaufen: Warum? – Warum musste das geschehen?!
1. Ein erster Gedanke: Der verborgene Gott
Wir sind den Gedanken gewohnt, Gott in Jesus zu kennen, ja ihm sogar ins Herz sehen zu dürfen – in Jesus, wie Luther gesagt hat, ein Herz, das ein „Glutofen voll Liebe“ zu uns ist.
Derselbe Luther hat aber auch darauf bestanden, dass es auch die verborgene Seite Gottes gibt, in die wir nicht dringen können. Das hat er nicht erfunden, dabei konnte er sich auf ein Bibelwort stützen, das in diesen Tagen nach dem Bibelleseplan der Apis auch dran war oder noch dran kommt: Jes 45,15: Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels, der Heiland. Man kann auch nicht sagen, dass das dann im Neuen Testament einfach anders ist. Paulus nimmt nämlich dieses Wort auf und sagt in Römer 11,33:
Wie unbegreiflich sind seine (Gottes) Gerichte und unerforschlich seine Wege!
Angesichts der Verborgenheit Gottes hat uns Luther einen seelsorgerlichen Rat gegeben, den ich auch nicht unterschlagen möchte, weil er wichtig ist: Wenn schweres Leid unseren Blick auf Gott verdunkelt, dann hätte Luther uns zugerufen: „Flieh von der Verborgenheit Gottes, die du nicht ergründen kannst, zum offenbaren Gott am Kreuz von Golgatha, der aus Liebe zu dir verblutet, dort findest du Trost und Halt und Hoffnung!“
Aber halten wir fest: Die Bibelworte vom verborgenen Gott verwehren uns, Gott alle Geheimnisse über die Ursachen des Leids und des Bösen entlocken zu wollen.
2. Ein zweiter Gedanke:
Die zeitgenössische Resignation im Blick auf die Leidfrage
Hören Sie sich einmal um unter Laien wie unter Theologen, welche Antwort sie bekommen auf die Frage nach dem Leid: Die gängige – auch christliche – Antwort, die sich heute m.E. durchgesetzt hat: Es gibt keine Antwort!
Woher kommt das? Der bedeutendste deutsche Philosoph Immanuel Kant hat bestritten, dass es möglich ist, mit den Mitteln der Vernunft die Frage nach dem Leid in der Welt zu lösen. Seither wird es ihm tausendfach nachgesprochen, auch von Christen: Auf die Warum-Frage gibt es keine Antwort.
Dabei hat Kant – ich habe mich extra vergewissert – nur bestritten, dass es eine Antwort der Vernunft auf die Leidfrage gibt. Er hat ausdrücklich eingeräumt, dass Glaubensantworten möglich sind. Nur, das wird nicht mehr gesehen, das wurde vergessen. Daher die gängige Antwort: „Es gibt keine Antwort auf die Leidfrage!“
3. Deshalb unser dritter Gedanke: Biblische Impulse, Verstehenshilfen zur Leid-Frage
3.1 Einen erster Impuls:
Vielleicht war Kants scharfer Verstand ja nötig, um uns Christen auf die richtige biblische Spur zu bringen:
Wer genau ins Alte Testament hineinschaut, der stellt fest, dass es dort zwei Wörter für „Warum“ gibt.
Das erste „Maduah“ leitet sich im Hebräischen von dem Begriff „Wissen“ / „Erkennen“ ab. Das andere Wort „Lama“ heißt streng genommen gar nicht „warum“ sondern „zu welchem Zweck“, „zu welchem Ziel“, kurz gesagt: es meint „wozu“. Nun betet Jesus am Kreuz ausdrücklich, es ist im NT sogar im Urtext zitiert, mit dem zweiten Wort „Lama“:
„Mein Gott, mein Gott, zu welchem Zweck, zu welchem Ziel, wozu hast du mich verlassen?“
So dass wir von diesem doppelten Befund her zugegeben können: Wenn wir nur unsere Neugierde befriedigen wollen, weshalb dieses oder jenes Schlimme geschehen ist, (wie die Freunde Hiobs ihm gerne auf die Schliche gekommen wären, was er sich Gott gegenüber geleistet hat,) dann gehen wir leer aus. Tatsächlich mit den Mitteln der Vernunft finden wir auf die Leidfrage keine Antwort. Auf die Maduah-Frage unseres Verstands, unserer Neugier gibt es keine Antwort!
Anders wenn wir uns wie Jesus an die Ziel- und Zweckfrage klammern: „Mein Gott, mein Gott wozu (lama) hast du mich verlassen?“
Jesus hat die Antwort darauf wohl nicht gleich von seinem himmlischen Vater bekommen, aber er hat sie definitiv bekommen: Drei Tage später am Ostermorgen, war seine Frage in aller Klarheit beantwortet: Zur Überwindung von Sünde und Tod hat er am Kreuz unsere verdiente Gottverlassenheit ertragen und ist am Ostermorgen auferstanden, um das Ende aller unserer Gottverlassenheit, den Tod zu überwinden.
Wenn eine Frage im Neuen Testament eindeutig von Gott beantwortet wird, dann diese Frage Jesu: „Mein Gott, mein Gott, warum oder besser wozu hast du mich verlassen!“
Schauen wir noch einmal auf Hiob zurück: Auch er bleibt nicht ohne Antwort auf sein vielfaches Anklopfen bei Gott: Gott antwortet ihm am Ende des Hiobbuches ausdrücklich zweimal.
Genau das macht uns Mut, als Christen im Blick auf die Leid-Frage nicht einfach zu resignieren, sondern auf unsere persönlichen „Warum-, besser Wozu-Fragen“ Gottes Antworten zu suchen, zu erbitten und darauf auch geduldig zu warten.
Auch hier gilt die Zusage: Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr. (Jer 29,13f)
3.2 Ein zweiter Impuls:
Wir haben vorher mit den Kindern versucht, die hebräische Bibel aufzuschlagen. Dabei haben wir festgestellt: Man muss sie von hinten her lesen.
So haben schon die Alten gesagt: Auch unsere schweren Erfahrungen im Leben muss man wie eine hebräische Bibel von hinten her lesen! Oft nicht mitten in einer aktuellen Not, sondern vom Ende her kriegen schwere Erfahrungen ihren Sinn.
Auch wer das Hiobbuch verstehen will – so ging es mir selbst immer wieder – muss immer wieder bei den Schluss-Kapiteln anfangen: Was sagt Gott zum Wozu seiner Lebenskrise, zu welchem Ziel kommt das Ganze. Verstehen kann man das nur vom Ende her.
In der Bibel ist dieser Gedanke fest verankert: Nach der großen Krise mit dem Goldenen Kalb, bittet Mose um eine besondere Gottesbegegnung. Die wird ihm auch geschenkt, aber in einer besonderen Weise: Gott sagt zu Mose: Du darfst mir nur hinterherschauen. Nachzulesen in 2. Mose 33,23.
Das heißt doch: Wir werden nie auf Augenhöhe Gottes Absichten und Pläne durchschauen. Aber wir dürfen immer wieder seine Spuren in unserem Leben erkennen, vom Ende eines Ereignisses in unserem Leben, vom Ende einer Wegetappe, vom Ende eines Lebensabschnittes oder vom Lebensende her, den Sinn erkennen, auch das Wozu unserer schmerzlichen Erfahrungen.
Ich möchte noch hinzufügen, dass dies nicht nur im Alten Testament so ist, sondern auch im Neuen Testament:
Als Petrus aufbegehrt gegen Jesu Weg ins Leiden, und sich ihm in den Weg stellt, wehrt sich Jesus ganz schroff gegen diese Versuchung: Leider hat Luther Jesu Wort nicht ganz wörtlich übersetzt: Jesus sagt nicht zu Petrus: „Geh weg von mir …!“ Sondern er sagt: Hinter mich …! (Mk 8,33)
Das ist unser Platz: Hinter Jesus. Im Nachhinein seine Spuren in unserem Leben wahrnehmen.
Friedrich von Bodelschwingh hat innerhalb von 14 Tagen alle seine 4 Kinder an Diphterie verloren. Er und vor allem seine Frau waren am Boden zerstört. Doch dann sah man Bodelschwingh auf den Friedhof gehen mit ein paar Brettern und Pfosten, aus denen er neben den Gräbern seiner Kinder ein Bänkchen für sich und seine Frau zimmerte: „Hier will ich sitzen und nachdenken, was Gott mir dadurch wohl zeigen möchte!“ Als er einmal dort saß, kamen Abgesandte aus Bielefeld, die einen Leiter für ihre neue Einrichtung für bedürftige und kranke Kinder suchten, die noch in den Anfängen steckte:
Bodelschwingh sagte zu in der Rückschau auf sein eigenes Leid: „Vielleicht hat Gott mir ja meine Kinder genommen, damit ich für diese fremden Kinder ein Vater bin“. So ist Bethel entstanden, die größte diakonische Einrichtung in Deutschland.
Gottes Spuren in unserem Leben hinterhersehen, das ist der Weg, wie wir Antworten erspüren und erbitten dürfen.
3.3 Noch ein dritter Impuls ist hier wichtig:
Als man an Jesus die Frage nach dem Sinn von Leid und Not herantrug, hat er nie darauf geantwortet: Ich weiß es nicht! Oder wie man heute antworten würde: Es gibt darauf keine Antwort!
Was aber auffallend ist: Jesu Antworten fallen im Einzelfall ganz verschieden, ganz unterschiedlich aus: Einmal sieht er in einem Unglück einen Ruf zur Umkehr (Lk 13,1-5); ein andermal ist eine Blindheit von Geburt an der Anlass, dass Gottes Werke im Wunder der Heilung offenbar werden, nachzulesen Joh 9,1ff.
Auch der Sinn von Jesu eigenem Leiden ist ja ganz speziell auf den Sohn Gottes zugeschnitten und überhaupt nicht übertragbar!
Was wir daraus für die Leidfrage lernen können: So wie es auf dieser Welt 7 oder 8 Milliarden Menschen gibt, von denen Gott jeden einzelnen einzigartig gemacht hat, so hat Gott auch 7 oder 8 Milliarden einzigartige Lebenswege mit Höhen und Tiefen, mit jedem Menschen besonders, von diesen Wegen ist auch keiner ist wie der andere.
Deshalb können wir es einem Betroffenen niemals einfach überstülpen, was der Sinn seiner schweren Lebenserfahrungen ist. Was wir dürfen: Wir dürfen ihn einladen und unterstützen beim Suchen und Fragen nach Gottes Spuren in seinem Leben.
Vor etlichen Jahren wurde in der Nähe von Freiburg eine junge Frau ermordet. Die Mutter wurde von Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Depressionen, überwältigt. Eine Freundin sagte zu ihr: „Ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann, aber ich kenne jemand, der es kann“. Sie erzählte der Mutter von Jesus. Mit diesem Tag bekam ihr Leben eine neue Perspektive. Es folgten viele Begegnungen mit Christen. Langsam konnte eine innere Heilung beginnen. Der Mörder der Tochter war inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Nach jahrelangem innerem Kampf wurde der Mutter deutlich, wie wichtig es wäre, dem Mörder ihrer Tochter zu vergeben. So besuchte sie den mittlerweile schwer Erkrankten neun Jahre später in der Haft. Sie sagte ihm, dass sie ihm vergeben hätte – und Gott warte auf ihn, um ihm auch zu vergeben. Unter Tränen vertraute der Mörder sein Leben Jesus Christus an. Zwei Wochen später starb er.
Merken wir, wie die Freundin jener schwergeprüften Mutter bei der Suche nach Trost und Sinn Beistand leistete, aber die Mutter selbst ihren Weg finden musste. Und wie wiederum die Mutter dem Mörder ihrer Tochter bei der Suche half und auch er seinen Weg finden durfte.
4. Ein letzter Gedanke ist mir wichtig unter der Überschrift: Die Leidfrage und die Ewigkeit.
Viele Christen sagen: Die Frage nach Leid und Not wird sich einmal in der Ewigkeit klären. Das ist natürlich nicht falsch, zumal wenn man damit eine vollständige und umfassende Antwort meint.
Mir ist aber aufgefallen: Wenn Jesus in Joh 16,23 sagt: „An dem Tag werdet ihr mich nichts fragen“, dann meint er nach dem Zusammenhang gar nicht die Ewigkeit, sondern den Ostertag! Also ein Ereignis mitten in dieser Welt. Schon am Ostersonntagmorgen hat Gott die Wozu-Frage Jesu, unser Bibelwort, vollständig beantwortet.
Weil Gott der „Inbegriff von Sinn“ im Leben ist, wie der zeitgenössische Philosoph und Christ Robert Spaemann einmal gesagt hat, führt er uns auch schon auf unserer irdischen Lebensetappe nicht ins Chaos, sondern schenkt Lebenssinn! Ein erfülltes Leben, das Jesus uns verspricht (Joh 10,10b), ist Leben mit erkennbarem Sinn. Darauf dürfen wir vertrauen!
Was allerdings wahr ist, um mit Paulus zu sprechen: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild“ 1. Kor 13,12. Paulus dachte dabei an die damals üblichen Metallspiegel seiner Zeit, die oft nur ein trübes Bild gaben. So kann die Antwort die wir auf unsere Wozu-Frage bekommen noch getrübt sein.
Deshalb fährt er fort und zeigt uns, was wir von der Ewigkeit erwarten dürfen: „Dann sehen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“.
Noch eine praktische und seelsorgerliche Schlussbemerkung:
Mir sind gleich zwei Mütter bekannt, die ihre Kinder im Jugendalter verloren haben; beide sagen mit dem Satz aus Römer 8,28 tun sie sich sehr schwer: Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.
Vielleicht hilft ein sprachlicher Hinweis: Wenn ich den Ausdruck „zum Besten“ im Sinne der Werbung im Sinne von „gut, besser, am besten“ verstehe, wird es falsch.
Tatsache ist, dass im Urtext steht: Denen, die Gott lieben müssen alle Dinge zum Guten dienen.
Gott verspricht uns nicht den aus unserer Sicht optimalen Weg durchs Leben, aber einen für uns gangbaren. Das ist auch die „rechte Straße“ von Psalm 23,3: Eigentlich ein „Pfad“ mit Höhen und Tiefen. Aber ein gangbarer Weg, weil wir an seiner Hand gehen dürfen. Amen.
Gez. A. Bahret